Feuerzeichnungen in der Nacht: Scheibenschlagen – archaisches Brauchtum
Langsam dämmert es, der Himmel malt die blaue Stunde, die Silhouetten der gezackten Bergkämme geben dem Bild einen dunklen unteren Rahmen. Zeit zum Aufbrechen!
Eingehüllt wie die Teilnehmer einer Antarktis-Expedition: ausgerüstet mit fellgefütterten Schuhen, Wollpullovern – am besten mehrlagig – Zipfelmützen und Handschuhen stapfen wir schnellen Schrittes bergauf. Schon bald geht mir die Puste aus und wir legen eine langsamere Gangart ein. Ziel ist eine Anhöhe oberhalb von Mals, jeder Ortsteil hat seinen traditionsgemäß angestammten Platz zum Scheibenschlagen.
Für mich zählt das Scheibenschlagen zu den schönsten Bräuchen im Jahr. Hinter einem liegen die Wintermonate, spürbar nehmen die Tage und die Kraft der Sonne zu, mit diesem uralten Ritual wird die kalte Jahreszeit poetisch verabschiedet und der Frühling willkommen geheißen. Wir kommen an.
Das Feuer lodert schon, Glutbrocken glimmen und scheinen mit zunehmender Dunkelheit an Leuchtkraft zu gewinnen. Rund um die Feuerstelle scharen sich Familien mit Kindern, ältere Menschen und viele Jugendliche. Vielerorts ist das Scheibenschlagen eine Männerdomäne, hier ist man toleranter. Schon kleine Knirpse, Mädchen wie Buben, halten eine Haselstrauchrute in die Glut, an jeder steckt eine Birkenholzscheibe.
Schon Wochen zuvor wird mit den Vorbereitungen begonnen, geeignete Haselstrauchstöcke gesucht und zurechtgeschnitten, die Scheiben aus Birkenstämmen gesägt. Mancherorts sind sie ganz schlicht und rund, anderenorts werden sie viereckig geschnitten und an den Seitenwänden abgeschrägt. Allen gemeinsam ist das Loch in der Mitte, in welches der Schleuderstock gesteckt wird. Die Scheiben werden so lange in die Glut gehalten bis sie glühen. Dann begibt sich der „Scheibenschloger“ an einen freien Platz am Hang und schwingt Stock und Scheibe um seinen Körper. Währenddessen werden zauberformelartige Sprüche, Orakelsprüche, aufgesagt oder gebrüllt. Mit Schwung schlägt man die Scheibe talwärts auf den Boden und diese segelt davon.
O Reim, Reim
Weim weart woll epar dia Scheib sain?
Dia Scheib und mai Kniascheib
Soll fir dr … sein.
Geatsas guat, hotsas guat,
Schaug wia mei Schaibale weit ausigeat.
Oh rax, rax nimps ban Hax,
nimms ban Zeach,
schaug wia mein Scheibale weit ausigeat.
Fliegt die Scheibe weit und einen schönen Bogen beschreibend ins Tal, wird das als gutes Omen gewertet. Sieht einfach aus, ist es aber nicht. Mein Versuch kann sich zwar sehen lassen, aber wirklich weit fliegt eine Scheibe nicht, trotzdem bin glücklich.
Ach ja, die Hex. Sie hat die Form eines Kreuzes. Man mag mutmaßen, dass sich auch darin die Unbeugsamkeit und der rebellische Geist der Vinschger ausdrücken, die Auflehnung gegen das den heidnischen Glauben verdrängende Christentum zum Ausdruck kam. Der Höhepunkt des Festes ist erreicht, wenn die Hexe brennt. Auch die Kleinsten harren aus bis es soweit ist. Auf einigen Plätzen an den Hängen rundum sieht man die Hexen schon lodern. Jetzt ist es auch hier soweit. Auch dieser Teil des Rituals wird von Rufen und Brüllen begleitet. Der erste Funke springt über, es knistert laut, Feuerzungen fressen sich das meterhohe, strohumwickelte Holzkreuz bis zur Spitze hinauf. Es wird hell und heller, der Lichtschein fällt auf die vor Kälte und Aufregung geröteten Gesichter und dann kehrt die Dunkelheit zurück.
Wir machen uns auf den Heimweg, die Taschenlampe tut guten Dienst beim Abstieg durch den Wald. Wir überlassen das Feld den Jugendlichen, die noch bis zu den frühen Morgenstunden am Feuer zusammensitzen, ihre Scheiben zu Tale schleudern und Rufe ausstoßen werden, bis die Stimme heiser ist.